7

 

„Da haben Sie ihn wieder, Mrs. Corelli.“ Tess reichte einen Katzentransportkorb aus Plastik über den Empfangstresen und gab den knurrenden, fauchenden weißen Perser seiner Eigentümerin zurück. „Angel ist gerade nicht in bester Laune, aber in ein paar Tagen ist er wieder ganz auf dem Damm. Ich würde ihn allerdings nicht rauslassen, solange sich die Fäden noch nicht ganz aufgelöst haben. Seine Tage als Casanova sind jetzt auf jeden Fall gezählt.“

Die ältere Dame schnalzte mit der Zunge. „Seit Monaten geht das jetzt schon so. Ich schau die Straße hoch, die Straße runter -  überall rennen lauter kleine Angels herum. Und mein armes Miezekätzchen, jeden Abend kam er zugerichtet wie ein Preisboxer nach Hause, sein armes Gesichtchen ganz zerrissen und blutig.“

„Tja, viel Interesse am Raufen wird er jetzt nicht mehr haben.

Oder an seinem anderen Lieblingshobby. Sie haben die richtige Entscheidung getroffen, ihn kastrieren zu lassen, Mrs. Corelli.“

„Mein Mann lässt fragen, ob Sie das nicht auch für den aktuellen Freund unserer Enkelin tun könnten. Oh, das ist vielleicht ein wilder Junge. Nichts als Ärger, dabei ist er erst fünfzehn!“

Tess lachte. „Ich fürchte, ich darf wirklich nur Tiere behandeln.“

„Schade, das ist alles, was ich dazu sage. Also, was bin ich Ihnen schuldig, meine Liebe?“

Tess sah der älteren Frau zu, wie sie mit aufgesprungenen, arthritischen Händen umständlich ihr Scheckbuch zückte. Sie wusste, Mrs. Corelli war schon eine Weile im Rentenalter, trotzdem arbeitete sie immer noch fünf Tage die Woche als Putzfrau. Es war harte Arbeit, die schlecht bezahlt wurde, aber seit die Invalidenrente ihres Mannes vor ein paar Jahren ausgelaufen war, war Mrs. Corelli diejenige, die ihre Familie durchbringen musste. Immer, wenn Tess in Versuchung kam, wegen ihrer finanziellen Lage zu verzweifeln, dachte sie an diese Frau und mit wie viel Würde sie sich durchs Leben schlug.

„Wir haben gerade eine spezielle Rabattaktion, Mrs. Corelli.

Deshalb kostet es Sie heute nur zwanzig Dollar.“

„Sind Sie sicher, meine Liebe?“ Als Tess bestätigend nickte, zahlte die Frau die Gebühr, klemmte sich den Transportkorb unter den Arm und ging auf den Ausgang zu.

„Danke, Dr. Tess.“

„Gern geschehen.“

Als sich die Tür hinter ihrem Patienten schloss, warf Tess einen Blick auf die Uhr an der Wand des Wartezimmers. Erst kurz nach vier. Der Tag wollte und wollte nicht vergehen, kein Wunder nach der seltsamen Nacht, die sie hinter sich hatte. Sie hatte schon daran gedacht, alle Termine abzusagen und zu Hause zu bleiben, aber dann hatte sie sich zusammengerissen und doch den ganzen Tag durchgearbeitet. Nur noch ein Termin, dann konnte sie die Klinik für heute zumachen.

Obwohl sie eigentlich keine Ahnung hatte, was sie nach Hause in ihre leere Wohnung trieb. Sie fühlte sich nervös und erschöpft, ihr ganzer Körper summte von einer seltsamen Unruhe.

„Du hast eine Nachricht von Ben“, verkündete Nora, als sie aus dem Behandlungsraum kam, in dem sie die Fellpflege von Hunden durchführten. „Auf einem Klebezettel beim Telefon. Irgendwas von so einem noblen Kunstevent morgen Abend? Er sagte, vor ein paar Wochen hast du mal erwähnt, dass du mit ihm dorthin willst, aber er wollte sichergehen, dass du’s nicht vergessen hast.“

„Oh, Mist. Die Ausstellungseröffnung im Museum der schönen Künste ist schon morgen Abend?“

Nora warf ihr einen trockenen Blick zu. „Scheint, als hättest du es tatsächlich vergessen. Es klingt jedenfalls nach einem tollen Abend. Ach, und deine Vierundzwanzig-Stunden-Impfung hat eben angerufen und abgesagt. Eins der Mädels beim Schnellimbiss hat sich krankgemeldet, darum arbeitet sie jetzt zwei Schichten hintereinander. Sie wollte einen neuen Termin für nächste Woche.“

Tess fasste ihr langes Haar im Nacken zusammen und massierte die angespannten Muskeln am Schädelansatz. „Das geht klar. Rufst du sie für mich zurück und machst den neuen Termin mit ihr?“

„Hab ich doch schon gemacht. Geht’s dir gut?“

„Ja. War gestern nur eine lange Nacht, das ist alles.“

„Davon hab ich schon gehört. Ben hat mir erzählt, was passiert ist. Bist wieder am Schreibtisch eingepennt, was?“ Nora lachte und schüttelte den Kopf. „Und Ben hat sich Sorgen gemacht und die Cops gerufen, um nach dir zu sehen? Bin ich froh, dass er mit denen keine ernsten Probleme bekommen hat wegen dieser streunenden Katze, die er da aufgesammelt hat.“

„Ich auch.“

Als er sie zu Hause absetzte, hatte Ben ihr versprochen, auf dem Rückweg sofort Shiva von der Klinik abzuholen und das Tier seinen Eigentümern zurückzubringen, wie die Polizei ihm befohlen hatte. Dass ein erneuter Rettungsversuch nicht infrage kam, wollte er ihr allerdings nicht versprechen. Nicht zum ersten Mal fragte sich Tess, ob sein hartnäckiger Pflichteifer, so gut seine Absichten auch waren, ihm nicht eines Tages zum Verhängnis werden würde.

„Weißt du“, sagte sie zu ihrer Assistentin, „ich verstehe immer noch nicht, wie ich aus Versehen im Schlaf mit der Kurzwahltaste ausgerechnet seine Nummer wählen konnte …“

„Hm. Vielleicht wolltest du ihn unbewusst anrufen. Hey, das sollte ich eines Abends vielleicht auch mal ausprobieren. Meinst du, er kommt auch gleich angedüst, um mich zu retten?“ Als Tess die Augen verdrehte, hob Nora abwehrend die Hände. „Ich sag ja nur! Er scheint einfach ein klasse Typ zu sein. Gut aussehend, klug, charmant -  und, nicht zu vergessen, er ist komplett verrückt nach dir. Ich weiß nicht, warum du ihm keine Chance gibst.“

Tess hatte ihm eine Chance gegeben. Mehr als eine, um genau zu sein. Und obwohl die Probleme, die sie mit ihm gehabt hatte, längst der Vergangenheit angehörten -  das hatte er ihr immer wieder geschworen - , hatte sie bei dem Gedanken, dass zwischen ihnen wieder mehr sein könnte als Freundschaft, ein ungutes Gefühl. Eigentlich kam sie immer mehr zu dem Schluss, dass sie für dieses ganze Beziehungsding einfach nicht gemacht war, mit niemandem.

„Ben ist ein netter Kerl“, sagte sie schließlich, zog den Haftzettel mit seiner Nachricht ab und stopfte ihn in die Tasche der Khakihose, die sie unter dem langen, weißen Laborkittel trug.

„Aber nicht jeder ist so, wie er scheint.“

Tess stempelte Mrs. Corellis Scheck, den letzten Geldeingang des Tages, für die Bank ab und machte sich daran, einen Einzahlungsschein auszufüllen.

„Soll ich das für dich auf dem Heimweg bei der Bank einwerfen?“, fragte Nora.

„Nein. Ich mach das schon. Da wir jetzt keine Patienten mehr haben, glaube ich, dass wir für heute einfach mal Feierabend machen.“ Tess steckte den Einzahlungsschein in die lederne Hülle zu den anderen. Als sie aufsah, starrte Nora sie an.

„Was ist? Stimmt was nicht?“

„Ich weiß nicht. Wer zum Teufel bist du, und was hast du mit meiner arbeitswütigen Chefin angestellt?“

Tess zögerte, plötzlich fühlte sie ein Schuldgefühl in sich aufkeimen. Schließlich hätte sie noch genug Ablage zu machen, um damit einige Tage beschäftigt zu sein. Sie fragte sich, ob sie wirklich früher -  mittlerweile war es sogar pünktlich -  aufhören sollte.

„Ich mach doch nur Spaß“, sagte Nora, die schon um den Tresen geschossen kam, um Tess in den kleinen Vorraum hinauszuscheuchen. „Geh heim. Erhol dich. Amüsier dich mal, um Himmels willen.“

Tess nickte. Sie war so dankbar, jemanden wie Nora zu haben. „Danke. Ich weiß nicht, was ich ohne dich täte.“

„Daran erinnere dich mal, wenn bei mir die nächste Gehaltserhöhung fällig ist.“

Tess brauchte nur ein paar Minuten, um ihren Laborkittel abzustreifen, sich ihre Handtasche zu schnappen und den Computer in ihrem Büro herunterzufahren. Sie verließ die Klinik und ging in den hellen, sonnigen Nachmittag hinaus.

Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal Feierabend gemacht und es zur U-Bahn geschafft hatte, bevor es dunkel wurde. Sie genoss die plötzliche Freiheit -  all ihre Sinne schienen ihr lebendiger und besser aufeinander eingespielt als je zuvor -  und ließ sich alle Zeit der Welt. Zur Bank schaffte sie es erst ein paar Minuten, bevor sie schloss, dann nahm sie die U-Bahn in den Stadtteil North End, nach Hause.

Ihre Wohnung war ordentlich, aber nicht weiter spektakulär -  zwei Zimmer mit Bad, so nah an der Autobahn, dass das stete Rauschen des Verkehrs zu ihrem persönlichen Hintergrundgeräusch geworden war. Nicht einmal das häufige Hupen ungeduldiger Autofahrer hatte sie je wirklich gestört oder wenn unten auf der Straße vor ihrer Wohnung Bremsen kreischten.

Bis jetzt.

Tess joggte die zwei Stockwerke zu ihrer Wohnung hinauf, vom Straßenlärm dröhnte ihr der Kopf. Sie schloss hinter sich ab und lehnte sich an die Tür, warf Handtasche und Schlüssel auf einen antiken Nähmaschinentisch, den sie billig erstanden und zu einem Sideboard umfunktioniert hatte. Sie kickte ihre braunen Ledermokassins von den Füßen und schlenderte ins Wohnzimmer, um ihren Anrufbeantworter abzuhören und sich zu überlegen, was sie zu Abend essen wollte.

Ben hatte noch eine Nachricht hinterlassen. Er hatte heute Abend in North End zu tun und hoffte, dass sie nichts dagegen hätte, wenn er bei ihr vorbeischaute, um nach ihr zu sehen, vielleicht konnten sie ja in einem der nah gelegenen Pubs ein Bier zusammen trinken.

Er klang so hoffnungsvoll, so harmlos und freundlich, dass Tess’ Finger einen langen Augenblick über der Rückruftaste schwebte. Sie wollte ihn nicht ermutigen, und es war schon dumm genug, dass sie überhaupt versprochen hatte, mit ihm zu dieser Ausstellung im Museum der schönen Künste zu gehen.

Die morgen Abend stattfand, erinnerte sie sich wieder und fragte sich, ob es keine Möglichkeit gab, einen Rückzieher zu machen. Sie wollte nicht hin, aber sie würde trotzdem hingehen.

Ben hatte extra Karten besorgt, weil er wusste, dass sie die Bildhauerei liebte und dass die Werke einiger ihrer Lieblingskünstler dort ausgestellt sein würden, nur für bestimmte Zeit und bei eingeschränktem Publikumsverkehr.

Es war ein sehr aufmerksames Geschenk, und Ben würde verletzt sein, wenn sie ihm jetzt absagte. Sie würde mit ihm auf die Ausstellung gehen, aber es würde das letzte Mal sein, dass sie etwas als Paar zusammen unternahmen, auch wenn sie nur gute Freunde waren.

Als sie diese Frage für sich weitgehend geklärt hatte, schaltete Tess ihren Fernseher an und stieß auf die Wiederholung einer alten Folge von „Friends“, dann wanderte sie in ihre Kochnische hinüber, um sich etwas zu essen zu suchen. Sie ging direkt ans Tiefkühlfach, ihrer üblichen Nahrungsquelle Nummer eins.

Welche orangefarbene Dose voll tiefgekühlter Langeweile würde es denn heute geben?

Abwesend schnappte Tess sich die, die ihr am nächsten lag, und riss sie auf. Als die mit Plastikfolie versiegelte Schale auf ihren Küchentisch fiel, runzelte sie die Stirn. Gott, wie war sie doch jämmerlich. Wollte sie einen ihrer so seltenen freien Abende wirklich so  verbringen?

Amüsier dich mal,  hatte Nora gesagt.

Tess war sich ziemlich sicher, dass es gerade nichts auf ihrem persönlichen Terminkalender gab, das sich mit Amüsement gleichsetzen ließ. Nicht für Nora jedenfalls, aber für Tess selber auch nicht.

Sie war fast sechsundzwanzig, sollte etwa so der Rest ihres Lebens aussehen?

Obwohl ihre Verbitterung nicht nur von der Aussicht auf schalen Reis und gummiartiges Hähnchenfleisch herrührte, beäugte sie den tiefgefrorenen Klumpen voller Abscheu. Wann, fragte sie sich, hatte sie sich eigentlich das letzte Mal mit eigenen Händen etwas Gutes zu essen gekocht?

Wann hatte sie das letzte Mal überhaupt irgendetwas Gutes für sich getan?

Zu verdammt lang her, entschied sie, und fegte das Zeug vom Tisch in den Mülleimer.

 

Special Agent Sterling Chase mit erweiterter Handlungsbefugnis meldete sich pünktlich zur Abenddämmerung im Hauptquartier der Stammeskrieger. Man musste es ihm schon zugutehalten -  Anzug und Krawatte hatte er abgelegt, stattdessen trug er ein grafitgraues Strickhemd, schwarze Denimjeans und schwarze Lederstiefel mit dicken Profilsohlen. Auch an eine dunkle Kappe hatte er gedacht, um sein helles Haar zu verbergen. So wie er jetzt aussah, dachte Dante, konnte man fast vergessen, dass der Kerl Zivilist war.

Aber leider kaschierte keine Tarnkleidung der Welt, dass Harvard momentan Dantes offizielle Nervensäge Nummer eins war. Zu dumm.

„Wenn wir je eine Bank ausrauben, weiß ich immerhin, wer mir Tipps für meine Garderobe gibt“, sagte er zu dem Agenten und schlüpfte in seinen ledernen Trenchcoat, der innen mit allen möglichen Arten von Handwaffen gespickt war. Dann machten sie sich auf den Weg zur Garage des Hauptquartiers, um sich aus dem Fuhrpark des Ordens einen Wagen zu holen.

„Sie können mich gern fragen, aber ich werde nicht atemlos auf Ihren Anruf warten“, gab Chase zurück, wobei er den Blick über die erstklassige Sammlung von Fahrzeugen wandern ließ.

„Wie ich sehe, scheint der Orden finanziell gut dazustehen, auch ohne dabei auf Diebstahl im großen Stil angewiesen zu sein.“

Die riesige, hangarähnliche Garage war vollgeparkt mit hochwertigen Vehikeln -  Limousinen, Nutzfahrzeugen und Motorrädern. Einige Oldtimer waren darunter, die meisten Modelle aber waren neu, jedes einzelne Fahrzeug ein Prachtstück erlesener Schönheit. Dante führte ihn zu einem brandneuen, asphaltschwarzen Porsche Cayman S und drückte auf die Fernbedienung, um die Türen zu entriegeln. Sie kletterten in das Coupe, und Chase sah sich anerkennend darin um, als Dante den Motor aufheulen ließ, den Code aktivierte, der das Tor des Hangars öffnete, und das schnittige schwarze Biest auf seinen nächtlichen Streifzug hinausfuhr.

„Der Orden scheint keinerlei Geldsorgen zu kennen“, bemerkte Chase neben Dante im schwach erleuchteten Cockpit des Porsche. Er ließ ein amüsiertes Kichern hören. „Wissen Sie, unter den Bewohnern der Dunklen Häfen ist die Vorstellung weit verbreitet, dass Sie primitive Söldner sind, die immer noch wie gesetzlose Tiere in unterirdischen Käfigen hausen.“

„Was Sie nicht sagen“, murmelte Dante und starrte auf den dunklen Straßenabschnitt, der vor ihm lag. Mit der rechten Hand öffnete er das Handschuhfach und zog einen Ledersack heraus. Er enthielt eine kleine Waffenkiste, deren Inhalt -  diverse unterschiedlich große Messer, die in Scheiden steckten, eine schwere Kette und eine halbautomatische Pistole im Holster -  er dem Agenten in den Schoß warf. „Machen Sie sich bereit, Harvard. Ich hoffe doch sehr, dass Sie wissen, mit welchem Ende dieser schönen Beretta 92FS Sie auf die bösen Jungs schießen müssen. Wo Sie doch aus Ihrem Paradies der Kultiviertheit in unsere niederen Gefilde herabgestiegen sind.“

Chase schüttelte den Kopf und murmelte eine Rechtfertigung. „Hören Sie, so habe ich das nicht gemeint …“

„Interessiert mich einen Dreck, was Sie gemeint haben“, erwiderte Dante und nahm eine scharfe Linkskurve um ein Kaufhaus herum, dann schnurrte der Porsche eine leere Gasse entlang. „Interessiert mich einen Dreck, was Sie von mir oder meinen Brüdern halten. Das will ich von Anfang an geklärt haben, capisce? Sie fahren hier nur mit, weil Lucan sagt, dass Sie hier mitfahren. Das Beste, was Sie jetzt tun können, ist festhalten, Klappe halten und mir verdammt noch mal nicht in die Quere kommen.“

In den Augen des Agenten blitzte es verärgert auf, seine Wut strahlte in Wellen von ihm ab. Obwohl Dante deutlich merkte, dass der Agent es nicht gewohnt war, Befehle entgegenzunehmen

-  schon gar nicht von jemandem, der seiner Ansicht nach gesellschaftlich ein paar Stufen unter ihm stand - , behielt der Mann aus dem Dunklen Hafen seine Verärgerung für sich. Er steckte die Waffen ein, die Dante ihm gegeben hatte, überprüfte, ob die Pistole gesichert war, und schob sie in das lederne Brusthalfter.

Dante fuhr nach North End. Gideon hatte einen Tipp bekommen, dass dort in einem der alten Gebäude ein Rave stattfinden sollte. Jetzt, um halb acht, hatten sie noch ungefähr fünf Stunden totzuschlagen, bevor sich herausstellte, ob an diesem Tipp wirklich etwas dran war oder nicht. Aber Dante war nicht der geduldige Typ. Er saß nicht herum und wartete ab. Der Tod, dachte er, hatte schwereres Spiel mit einem, wenn man immer in Bewegung blieb.

Er schaltete die Scheinwerfer aus und parkte den Porsche ein Stück weiter an der Straße, in der das Gebäude stand, das sie beobachten würden. Eine Brise kam auf und schickte einen Schwung welker Blätter und Straßenstaub über die Kühlerhaube. Als sie sich legte, fuhr Dante das Fenster herunter, ließ die Kühle hereinströmen und atmete tief ein, füllte seine Lunge mit der kühlen, herbstlichen Luft.

Etwas Würzig-Süßes kitzelte seine Nase und weckte jede einzelne Zelle seines Körpers auf. Der Duft war fern und schwer fassbar, nichts, was von Menschen oder Vampiren hergestellt sein konnte. Er war düster und warm, wie Zimt und Vanille, obwohl sich so nur ein Bruchteil seines Zaubers beschreiben ließ. Der Duft war exquisit und absolut einzigartig.

Dante erkannte ihn sofort. Er gehörte zu der jungen Frau, von der er sich genährt hatte -  der Stammesgefährtin, die er sich vor weniger als vierundzwanzig Stunden so sorglos zu eigen gemacht hatte.

Tess.

Dante öffnete die Tür und stieg aus.

„Was machen wir jetzt?“

„Sie bleiben hier“, instruierte er Chase. Er fühlte sich mit unwiderstehlicher Kraft zu ihr hingezogen, schon bewegten sich seine Füße auf dem Asphalt in die Richtung, aus der ihr Duft kam.

„Was ist los?“ Der Agent zog seine Waffe und schickte sich an, aus dem Porsche zu steigen, als habe er vor, Dante auf Schritt und Tritt zu folgen. „Sagen Sie mir, was los ist, verdammt noch mal. Sehen Sie was da draußen?“

„Sie bleiben im Auto, Harvard. Und lassen Sie das Gebäude nicht aus den Augen. Ich muss etwas überprüfen.“

Dante glaubte nicht, dass an ihrem Posten in den nächsten paar Minuten etwas passieren würde, aber auch wenn dem so war, es war ihm egal. Alles, was ihn jetzt beschäftigte, war dieser Duft im Nachtwind, der ihm sagte, dass die junge Frau ganz in der Nähe war.

Seine Frau,  erinnerte ihn eine Stimme, die tief aus seinem Inneren kam.

Dante verfolgte sie wie ein Raubtier seine Beute. Wie bei allen Angehörigen des Stammes waren seine Sinne überdurchschnittlich entwickelt. Zudem verfügte er über die Fähigkeit, sich mit übernatürlicher Geschwindigkeit zu bewegen, und er besaß die Beweglichkeit und Gelenkigkeit eines Tieres. Wenn sie es wollten, konnten sich Vampire unbemerkt unter den Menschen bewegen. Während sie an ihnen vorbeistrichen, nahmen die Menschen sie nur als kühlen Luftzug im Nacken wahr.

Dante nutzte diese Fähigkeit nun, um sich durch bevölkerte Straßen und Gassen zu navigieren, all seine Sinne fest auf seine Beute gerichtet.

Er bog um eine Ecke auf eine geschäftige Hauptstraße, und da war sie, direkt vor ihm auf der anderen Straßenseite.

Sofort blieb Dante stehen und beobachtete Tess, wie sie an einem hell erleuchteten Straßenstand einkaufte, sorgfältig frischen Salat und Gemüse auswählte. Sie ließ einen gelben Kürbis in ihre leinene Einkaufstasche fallen, dann stöberte sie in einem Obstkorb und hob eine blasse Honigmelone an die Nase, um ihren Reifegrad zu prüfen.

Er dachte an den Moment zurück, als er sie in ihrer Klinik zum ersten Mal gesehen hatte. Selbst durch den Nebel seiner Verletzungen hindurch hatte er erkannt, dass sie schön war.

Aber heute Nacht, im Schein der kleinen Lichterkette, die die Obst- und Gemüsekisten beleuchtete, sah sie geradezu betörend aus. Ihre Wangen waren leicht gerötet, ihre blaugrünen Augen strahlten, als sie der alten Standbesitzerin zulächelte und die Qualität ihrer Ware lobte.

Dante blieb auf seiner Straßenseite und hielt sich im Schatten. Er konnte die Augen nicht von ihr lassen. Hier, fast in ihrer unmittelbaren Nähe, war ihr Duft üppig und berauschend. Er atmete ihn durch den Mund ein, zog seine würzige Süße durch die Zähne, genoss, wie sie seine Zunge umspielte.

O Gott, er wollte sie wieder schmecken.

Er wollte von ihr trinken.

Er wollte sie nehmen.

Bevor er wusste, was er tat, trat Dante vom Gehsteig auf die Straße. Jetzt hätte er nur noch eine halbe Sekunde gebraucht, um neben ihr zu stehen, aber da bemerkte er etwas Seltsames.

Er war nicht der einzige Mann, der Tess mit offenkundigem Interesse beobachtete.

Nur ein paar Häuser weiter stand ein Mensch im Schutz eines Gebäudeeingangs und spähte um die Ecke zum Gemüsestand hinüber, offenbar wollte er Tess unbemerkt bei ihren Einkäufen zusehen. Groß und schlank, vom Typ gut aussehender College-Student, wirkte er eigentlich nicht wie ein Spanner oder Triebtäter. Aber auch Ted Bundy hatte nicht so ausgesehen.

Tess bezahlte ihre Einkäufe und wünschte der alten Frau einen schönen Abend. Im selben Moment, als sie sich von dem hell erleuchteten Gemüsestand entfernte, kam der Mann vorsichtig aus seinem Versteck hervor.

Bei dem Gedanken, dass Tess etwas zustoßen könnte, schäumte Dante vor Wut. In nur einem Sekundenbruchteil war er auf der anderen Straßenseite und heftete sich Tess’ Verfolger an die Fersen. Wenn der Kerl Tess auch nur mit seinem Atem streifte, würde er ihm verdammt noch mal die Arme abreißen.

„Hey, Doc“, rief der Mann, Vertrautheit in der Stimme,

„späte Einkäufe?“

Tess wirbelte herum und lächelte ihn überrascht an.

„Ben, hi! Was machst du denn hier?“

Sie kannte ihn. Dante zog sich sofort zurück und verschmolz mit dem dichten Strom der Fußgänger, der sich an den Geschäften und Restaurants vorbeischob.

„Hast du meine Nachricht nicht bekommen? Ich hatte hier oben zu tun und dachte, vielleicht könnten wir ja was essen gehen oder so.“

Dante sah, wie der Mann auf sie zuging, sie umarmte, sich dann hinunterbeugte und sie liebevoll auf die Wange küsste. Es war ganz offensichtlich, der Kerl war hin und weg von ihr. Mehr noch, Dante konnte es in seiner scharfen Ausdünstung riechen.

Der Typ war besitzergreifend. Und wie er Tess küsste -  als markierte er sein Revier.

„Wir gehen morgen Abend doch auf die Kunstausstellung?“, fragte der Mann.

„Ja, sicher“, nickte Tess. Als er sich bückte, um ihr die Last abzunehmen, überließ sie ihm ihre Einkaufstasche. „Was soll ich anziehen?“

„Was immer du willst. Ich weiß, du wirst auf jeden Fall umwerfend aussehen, Doc.“

Natürlich.  Dante verstand jetzt. Das war der Freund, den Tess letzte Nacht aus der Klinik angerufen hatte. Der Mann, an den sie sich wandte, wenn sie Angst hatte. So wie gestern Nacht, nach dem, was Dante ihr angetan hatte.

Jähe Eifersucht schoss ihm in den Magen -  ein Gefühl, auf das er eigentlich gar kein Recht hatte.

Aber sein Blut war anderer Meinung. Seine Venen waren lebendig und brannten. Der Teil von ihm, der nichts Menschliches an sich hatte, drängte ihn, durch die Menge zu stürmen und der jungen Frau zu sagen, dass sie ihm  gehörte und nur ihm allein. Ob sie sich dessen bewusst war oder nicht. Ob sie beide es selbst so wollten oder nicht.

Aber es gab auch noch einen anderen Teil in ihm, der vernünftiger war. Er warf seinem inneren Untier ein Halsband um und riss es zurück.

Unterwarf es.

Er wollte keine Stammesgefährtin. Er hatte nie eine gewollt und würde auch nie eine wollen. Dante sah Tess mit ihrem Freund davongehen, ihr zwangloses Geplauder verlor sich in den Gesprächen der anderen und im allgegenwärtigen Summen des Straßenlärms. Eine Minute lang blieb er zurück, das Blut hämmerte ihm in den Schläfen und auch in anderen, tiefer gelegenen Regionen seines Körpers.

Er drehte sich um, verschwand in den Schatten und kehrte zu dem Gebäude zurück, vor dem er Harvard als Wachposten zurückgelassen hatte. Er hoffte inständig, dass an Gideons Tipp über Rogue-Aktivitäten wirklich etwas dran war -  und zwar je eher desto lieber. Denn jetzt brannte er vor Lust auf einen ordentlichen, blutigen Kampf.

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